Der vermeintliche Abgesang der Globalisierung. Ein Ammenmärchen.

Andreas Berger
6 min readMay 15, 2021

In der NZZ vom 10. Mai 2021 sprach Gerald Hosp zunächst von einer “überreizten Globalisierung: Ein riesiges Containerschiff, das von einer taiwanischen Reederei betrieben wird, einem japanischen Schifffahrtsunternehmen gehört und unter der Flagge Panamas fährt, blieb mit seiner indischen Besatzung auf der Fahrt von China nach Europa in einem ägyptischen Kanal stecken — zum Leidwesen einer britischen Versicherung.” Doch wer daraufhin mit Begeisterung in die darauffolgenden Zeilen blickte, um sich in einer Kritik an der Globalisierung bestätigt zu fühlen, der wurde enttäuscht. Zu Recht.

Denn anders als die derzeitige Wahrnehmung ist die Globalisierung eine Erfolgsgeschichte. Und zwar auf ganzer Linie. Daran ändern auch das Containerschiff Ever Given nichts. Ja, das Schiff heißt nicht Evergreen, sondern Ever Given, auch wenn Evergreen drauf steht. Zwar hat die Situation am Suez-Kanal das Thema auf die Titelseiten gehoben, aber eine tatsächliche Aufklärung dazu hat nicht stattgefunden.

Der weltweite täglich aktive Schiffsverkehr. Quelle: https://www.marinetraffic.com/en/ais/home/centerx:-8.8/centery:34.9/zoom:2

Fakt ist allerdings, dass von den ca. 108 Billionen Tonnenkilometern weltweit in 2015 ca. 70% auf dem Wasser transportiert wurden, 18% auf der Straße, 9% auf Schienen und 2% auf inländischen Wasserwegen. Nur weniger als 0.25% wurden in der Luft transportiert. Ein Großteil unserer globalen Logistik spielt sich also auf den Weltmeeren ab, und zwar durchgeführt von genau diesen Containerschiffen, die von einer taiwanischen Reederei betrieben werden, einem japanischen Schifffahrtsunternehmen gebaut wurden, von einem Schauspieler in Hollywood oder dt. Ärzten finanziert werden und unter der Flagge Panamas fahren. Die Globalisierung hat all das möglich gemacht. Und während die Zahlen der einzelnen Quellen variieren, so wird doch klar, dass der globale Güterverkehr sehr effizient funktioniert.

Quelle: https://www.der-pressedienst.de/wp-content/uploads/2018/12/statistic_id482955_prognose-zum-frachtvolumen-weltweit-nach-verkehrstraegern-bis-2050.jpg

Er sorgt vereinfacht dargestellt dafür, dass dein neues auf Amazon bestelltes iPhone, das zwar in California designed, aber in China assembled und mit Kobalt aus der Demokratische Republik Kongo ausgestattet ist, nach zwei Tagen vor deiner Haustür liegt. Und nicht nur das. Wie Hosp richtig festhält, funktionieren die globalen Lieferketten “nicht nur wie geölt, sie waren auch Teil der Lösung, nicht des Problems. So wurden allein im Jahr 2020 nach vorläufigen geschätzten Zahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) Gesichtsschutzmasken im Wert von rund 6 Milliarden Euro nach Deutschland importiert. Von März bis Ende Dezember 2020 hat China 224,2 Milliarden Masken in einem Gesamtwert von 340 Milliarden Yuan (45,7 Milliarden Euro) exportiert, wobei 65 Milliarden davon medizinische Masken waren. Doch das eigentliche Thema ist unabhängig von der SARS-CoV-2 Pandemie.

Der Kapitalismus hatte vielmehr Anreize für die global agierenden Unternehmen geschaffen, auf Grund derer diese in den letzten 50+ Jahren ihre Aktivitäten in Produktionsstandorte wie beispielsweise China oder Vietnam verlagerten. Siemens, Apple, you name them. Der Kommunismus dort wiederum hatte seinen Beitrag dazu geleistet, diese vom Kapitalismus der westlichen Welt gesetzten Anreize noch zu verstärken. Gleichzeitig wurden Rohstoffe, die ebenfalls global abgebaut werden vom Kongo, von Saudi Arabien, Russland oder Kanada in die Welt verschifft. Öl, Gold, Gas, Baumwolle. Später auch Silizium und Kobalt. Ein Geben und Nehmen sozusagen. Billige Rohstoffe aus Afrika, billige Arbeitskräfte aus Asien, subventionierte Baumwolle aus den USA. Wer sich das nicht vorstellen kann, der kann gern den Weg eines T-Shirts nachvollziehen, das er für 4.95€ bei H&M erwirbt. Das war schon in 2012 von Texas über Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch über Malaysia nach Italien unterwegs, bevor es dann für 4.16€ netto bei H&M in Köln im Laden liegt.

Hinzu kamen dann im Laufe der Zeit neben den großen internationalen Container-Hubs wie Shanghai, Rotterdam, Singapore und Jebel Ali noch die Teilnehmer am Wirtschaftsgeschehen, die die steuerlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen für den hoch-effizienten globalen Handel geschaffen haben — die Fonds, Versicherungsgesellschaften, Schiffs-Holdings und Limited’s durch den das Ganze für alle Teilnehmer gleichermaßen funktionieren konnte und der dafür gesorgt hat, dass die Welt ihre Waren erhält. Schnell. Billig und Immer. Alles natürlich mit Unterstützung der Banken. Ein in sich sehr gut funktionierendes System, dass das Blut durch die Handelsadern der Welt pumpt. Unsere Ever Given hatte daher allenfalls ihre 15 Minuten Ruhm, mehr aber eben auch nicht. Das System ist immer noch hoch effizient und versorgt die Welt mit Gütern.

Die Ever Given, ein Schiff der Reederei Evergreen Marine. Quelle: https://theloadstar.com/ever-given-arrest-and-ga-what-happens-to-vessel-and-cargo-next/

Gleichwohl gab der Anlass den Medien einen Grund sich wieder mit der Globalisierung auseinander zu setzen. Folgen und Probleme der Globalisierung wurden zwar schon immer diskutiert, nicht nur 2012 im Artikel der ZEIT. Nein, auch schon vorher gab es immer wieder kritische Stimmen, die auf damit verbundene Probleme aufmerksam gemacht haben. Dabei wurde jedoch eine wesentliche Folge übersehen, was wie so oft daran lag, dass diese sich erst in der weit entfernten Zukunft realisieren würde. Nämlich in den 20iger Jahren des 21. Jahrhunderts. Während nämlich die Globalisierung neben den Problemen, die sie verursacht hat, auch Wohlstand in die Welt getragen hat, Löhne in Ländern wie Vietnam und Laos nach oben getrieben hat, China aus der Armut gehoben oder Saudi Arabien und Norwegen reicht gemach hat, so hat sie mittelbar auch die Kräfteverhältnisse auf der Welt verschoben. Und zwar entscheidend. Nämlich von West nach Ost.

China ist heute nicht mehr arm, es ist reich. Die Globalisierung hat es reich gemacht. Es hat produziert und geliefert und der Westen hat bezahlt. 2017 schuldeten andere Länder China die gewaltige Summe von mehr als 5.000 Mrd. Dollar, was etwa 6 % der globalen Wirtschaftsleistung entspricht. Rechnet man Direktinvestitionen und sonstige Leistungen hinzu, liegt das Volumen sogar bei 8 % des weltweiten BIP. Damit ist China der größte Nettogläubiger der Welt. Einer der expandiert. Man schaue nur auf die Neue Seitenstraße. Doch während das den meisten bekannt ist, so sind die Folgen vielen noch nicht klar.

Gerhard Schröder kommt in seinem neuen Buch dabei zur harten Erkenntnis: “Der Westen hatte seine Zeit. Sie war gut. Sie war politisch erfolgreich. Aber sie ist vorbei.” Ob man das so stehen lassen kann wird sich zeigen. Klar ist aber, dass der Westen vor großen geopolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen steht, die man nicht damit meistern kann, so weiter zu machen wie bisher. Wir brauchen eine neue Agenda 2050. Einen Plan für die Zukunft Europas in der Welt. Es kann gelingen, aber muss gewollt sein. Mit der heutigen Bürokratie wird es jedenfalls nicht gelingen. Seit 20 Jahren fordern die Unternehmer weniger Regeln und bekommen mehr. Sie wollen, dürfen aber nicht. Die Kräfte das Kapitalismus können sich nur noch schwer entfalten. Und ja, sie können mitunter brutal sein, diese Kräfte. Aber wir brauchen sie, wenn wir neue zukunftsfähige Industrien entwickeln wollen, damit der Westen an seinem Wohlstand festhalten kann.

Noch nie standen wir vor spannenderen Zeit. Die Chancen in Globalistan (und darüber hinaus) werden in einem noch nie da gewesenen Maße zunehmen. Doch wahrnehmen werden diese die Unternehmer der westlichen Welt nur, wenn die Politik der westlichen Welt und das Kapital ihnen dabei den Rücken stärkt. Politik und Wirtschaft müssen Hand-in-Hand gemeinsam in diese neue spannende Epoche gehen. Das Rennen hat schon längst begonnen. Der Zug rollt. Aber wer am Ende welchen Sitzplatz auf dieser faszinierenden Fahrt erhalten wird, diese Frage ist noch nicht abschließend beantwortet. Wir können sie beantworten und auch beeinflussen, wenn wir entschieden handeln. Innen- wie außenpolitisch.

Schon Thomas von Aquin wusste: Für Wunder muss man beten, für Veränderungen aber arbeiten.

Dr. Andreas Berger

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Andreas Berger

Advisor, Consultant, Inventor, Philosopher, Author and Business Leader/Owner.